Vogelspinnen sind eine Delikatesse, Väter sind mit ihren Söhnen nicht verwandt und Frauen haben ganz offiziell mehrere Männer: Viele Kulturen überraschen mit Sitten und Gebräuchen, die uns Mitteleuropäern auf den ersten Blick ziemlich seltsam erscheinen. Doch was exotisch anmutet, erschließt sich uns bei näherem Hinsehen. Denn die fremden Sitten fußen meist auf einer Jahrtausende alten Tradition, immer haben sie einen tieferen Sinn.
1. Wussten Sie, dass auf den Trobriand-Inseln der Vater eines Kindes nicht mit diesem verwandt ist?
Auf den Trobriand-Inseln im Südpazifik führt die religiöse Weltanschauung der dort lebenden Menschen zu einer ganz eigenen Sichtweise von Familie.
Im Weltbild der Trobriander ist der Mann, den wir als den Vater eines Kindes bezeichnen, mit diesem Kind noch nicht einmal blutsverwandt. Sie glauben nämlich, dass ein Kind nicht durch Geschlechtsverkehr gezeugt wird, sondern durch einen Geist. Dieser schreitet zur Tat, während die Trobriander-Frauen ein regelmäßiges rituelles Bad in einem Quellfluss nehmen.
Der während einer Schwangerschaft häufiger als sonst ausgeführte Geschlechtsverkehr ist ihrem Glauben nach nur dazu gut, den heranwachsenden Embryo zu füttern, indem er durch ausreichend Sperma versorgt wird. Dieses dient ihm in der Weltsicht der Südsee-Insulaner nämlich als Nahrung.
Die gesellschaftliche Rolle des Vaters, der Rechte und Pflichten gegenüber seinem Kind hat, fällt auf den Trobriand-Inseln dem Bruder der Mutter zu. Denn dieser ist nach dieser "matrilinear" genannten Vorstellung von Fortpflanzung, in welcher "unser" biologischer Vater keine wichtige Rolle einnimmt, der nächste männliche Blutsverwandte des Kindes. Hat die Mutter keinen Bruder, geht diese Rolle auf ihren nächsten männlichen Verwandten über.
2. Wussten Sie, dass es Kulturen gibt, in der ein Mann mehrere Frauen haben kann?
In weiten Teilen der Welt ist es völlig normal, dass ein Mann mehrere Frauen heiratet. Diese sogenannte Polygynie ist vielerorts weit mehr verbreitet als die bei uns übliche Monogamie – die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau.
Im Nahen und dem Mittleren Osten, in großen Teilen Indiens und Afrikas sowie in China und in manchen südostasiatischen Ländern sind Ehen eines Mannes mit mehreren Frauen üblich.
Übrigens gibt es auch in der europäischen Geschichte Beispiele für Polygynie: So sah Martin Luther es im 16. Jahrhundert als rechtmäßig an, dass Männer aus der Herrscherschicht mit mehreren Frauen verheiratet sind. Er selbst verheiratete einen hessischen Landgrafen mit zwei Frauen.
Im sogenannten Täuferreich von Münster wurde ebenfalls im 16. Jahrhundert wegen eines starken Frauenüberschusses vorübergehend die Polygynie eingeführt – so mussten keine Damen alleine bleiben.
3. Wussten Sie, dass es Kulturen gibt, in der eine Frau mehrere Männer haben kann?
Umgekehrt gibt es auch Kulturen, in denen Frauen mehrere Männer haben können. Dieser Fall ist aber weitaus seltener anzutreffen, als die Heirat eines Mannes mit mehreren Frauen.
Sogenannte polyandrische Ehen kommen in Teilen Indiens, im Himalaja-Gebiet sowie in Nigeria und im Kongo auf dem afrikanischen Kontinent vor.
Die gesellschaftlichen Ursachen für die "Vielmännerei" können verschiedene sein. So werden in manchen ländlichen Gebieten in Indien immer noch häufig neugeborene Mädchen getötet. Den dadurch entstehenden Männerüberschuss gleicht die Polyandrie aus.
Im westlichen Himalaja ist es dagegen so, dass fruchtbares Land sehr knapp ist und deshalb durch die Bindung mehrerer Männer an nur eine Frau die Zahl der Nachkommen beschränkt wird, um eine Land- und damit Nahrungsknappheit zu vermeiden.
4. Wussten Sie, dass Händeschütteln in Japan ein absolutes No Go ist?
Einem Fremden oder auch einem Bekannten zur Begrüßung die Hand zu reichen, ist in Japan höchst unüblich. Stattdessen ist eine Verbeugung die angemessene Geste.
Zwischenmenschlicher Körperkontakt – und damit das Händeschütteln – in der Öffentlichkeit überschreitet in Japan eine kulturelle Grenze der Intimität.
Schüttelt man in Japan jemandem die Hand, ist das in etwa damit vergleichbar, in unserer eigenen Gesellschaft einen Menschen zur Begrüßung auf den Mund zu küssen. Zum Beispiel unter Geschäftspartnern ist dies also eine Begrüßung, die total daneben ist.
5. Wussten Sie, dass Nicken anderswo "nein", Kopfschütteln aber "ja" heißt?
In manchen südosteuropäischen Ländern und in Indien kann es zu argen Missverständnissen kommen, versucht man, auf eine einfache Frage mit Nicken oder Kopfschütteln zu antworten.
Man stelle sich vor, man läuft in Kalkutta über einen Basar und quittiert sämtliche Annäherungsversuche der Händler - die einen natürlich schon längst als Touristen entlarvt haben und ihre Waren um jeden Preis unter die Leute bringen wollen - mit einem entschlossenen Kopfschütteln.
Die Schlange der Verkäufer, die einen nicht mehr loslassen, dürfte stetig länger werden. Denn das Schütteln des Kopfs, mit dem wir unsere Ablehnung zum Ausdruck bringen, bedeutet dort "ja".
Umgekehrt wird in Indien, aber auch in Bulgarien und Nordgriechenland, unser bejahendes Nicken mit dem Kopf als ein "Nein" verstanden. Wenn man sich also in diesen Ländern nicht gerade in Gegenden bewegt, die den Umgang mit Touristen und deren Umgangsformen gewohnt sind, sollte man sich über die Bedeutung seiner Gesten ganz genau im Klaren sein.
6. Wussten Sie, dass überall eine andere Entfernung zu Gesprächspartnern als angenehm empfunden wird?
Ebenso kann es zu Missverständnissen kommen, wenn man auf Geschäftsreisen oder im Urlaub zu viel oder zu wenig Abstand zu seinem Gesprächspartner einnimmt.
In arabischen Ländern ist es üblich, seinem Gegenüber so nah auf die Pelle zu rücken, dass der Angesprochene den eigenen Atem riechen kann. In Mitteleuropa wird diese Nähe als unangenehm oder als aufdringliches Verhalten empfunden. Der Ethnologe und Verhaltensforscher Edward T. Hall hat dieses Phänomen, das er "Proxemik" nennt, wissenschaftlich untersucht.
Demnach ordnen Menschen ihre Umwelt je nach der Kultur, aus der sie kommen, in unterschiedlich große Zonen der Nähe ein, die sie zu ihren Mitmenschen zulassen. Hall zufolge hat jeder Mensch eine intime Distanzzone, in die er nur enge Vertraute wie den eigenen Lebenspartner oder Familienmitglieder eindringen lässt.
Größer ist die persönliche Distanzzone, in der Gespräche mit Bekannten ablaufen und noch größer die öffentliche Dinstanzzone, die beim Kontakt mit unbekannten Menschen normalerweise eingehalten wird.
7. Wussten Sie, dass Vogelspinnen in Kambodscha eine Delikatesse sind?
In der kambodschanischen Stadt Skuon gelten große, haarige Vogelspinnen als Delikatesse. Daher heißt die Stadt im Volksmund auch "Spinnenstadt".
Während vielen von uns schon der Anblick eines harmlosen Weberknechts den kalten Schauer über den Rücken jagt und eine haarige Spinne in einem feuchten Keller für eine Panikattacke ausreicht, haben die Kambodschaner keinerlei Berührungsängste mit den Achtbeinern.
Als besonderer Leckerbissen gelten in Skuon frittierte Vogelspinnen, die auf Märkten haufenweise verkauft und wie Kartoffelchips genüsslich gesnackt werden.
Im Übrigen sind Vogel- und auch alle anderen Spinnen eng verwandt mit Wassertieren, die auch in unseren Breiten den Gourmet-Puls auf Touren bringen: Sie gehören im Tierreich zum Stamm der Gliederfüßer, zu denen auch Hummer und Scampis zählen. Genau wie diese, sind Vogelspinnen ein erstklassiger Eiweißlieferant für den Menschen.
8. Wussten Sie, dass junge Männer auf Vanuatu sich mit Lianen an den Beinen in die Tiefe stürzen?
Auf Vanuatu stürzen sich junge Männer jedes Jahr im Frühjahr todesmutig von 30 Meter hohen Holztürmen in die Tiefe – mit zwei an ihren Füßen befestigten Lianen, die sie kurz vor dem Aufschlag auf dem Boden abfangen.
Man möchte meinen, in dem pazifischen Inselstaat wurde der Bungee-Sprung erfunden. Doch die Südsee-Insulaner haben mit diesem bizarren Ritual weit ernstere Absichten, als einfach Spaß zu haben.
Diese sogenannte Naghol-Zeremonie ist einerseits ein Ritus, bei dem junge Erwachsene ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, wobei sie von der übrigen Bevölkerung frenetisch gefeiert werden. Andererseits dienen die Sprünge dazu, die Götter freundlich zu stimmen: Je knapper vor dem Boden die Lianen einen Springer stoppen, desto besser die Aussichten auf eine reiche Ernte.
9. Wussten Sie, dass manche Kulturen von unten nach oben oder von rechts nach links schreiben?
Geschrieben wird von links nach rechts und von oben nach unten – aber nicht überall auf der Welt. Schon bei Schriften in Kulturen, die uns sehr nahe sind und zu denen wir regen Kontakt haben, verhält es sich ganz anders.
Zum Beispiel verlaufen die hebräische und die arabische Schrift aus unserer Sicht spiegelverkehrt, nämlich von rechts nach links.
Die klassische mongolische Schrift wird zwar wie unsere eigene, lateinische Schrift von links nach rechts und von oben nach unten geschrieben. Anders als bei uns, laufen aber die einzelnen Zeilen dort nicht von links nach rechts und werden untereinander angeordnet. Sie verlaufen von oben nach unten und werden nebeneinander von links nach rechts angeordnet.
Ganz exotisch wirds auf den Philippinen: Hier verwenden einige Völker Schriften, die von unten nach oben verlaufen.
10. Wussten Sie, dass es eine Gesellschaft gibt, in der tatsächlich alle gleich sind?
Das Volk der San im südlichen Afrika lebt in einer egalitären Gesellschaftsordnung. In ihrer Kultur ist damit jeder vor dem anderen gleich, keiner hat besondere Rechte oder Privilegien.
Auch wenn heutzutage viele San auf Großfarmen als Arbeiter angestellt sind, leben immer noch einige Tausend von ihnen als Nomaden in den Steppen Namibias, Südafrikas, Botswanas, Angolas, Sambias und Simbabwes in ihrer traditionellen Gesellschaftsordnung.
Diese San haben keine politischen Führer und keine Rechtsprechung in unserem Sinne. Vielmehr leben sie in Gruppen von 20 bis 200 Mitgliedern zusammen, die gemeinsam durchs Land ziehen und jagen. Die Gruppen setzen sich einerseits nach verwandtschaftlichen Banden, andererseits nach persönlichen Vorlieben zusammen.
Denn jeder San hat die Möglichkeit, seine Gruppe zu verlassen und sich einer anderen anzuschließen. Damit ist eine Rechtsprechung in den meisten Fällen auch gar nicht nötig: Personen, die sich nicht riechen können, gehen sich aus dem Weg. Schadet einer der Gemeinschaft, befindet seine Gruppe gemeinsam darüber, wie mit dem Störenfried verfahren wird.
Diese Gesellschaftsordnung funktioniert bei den San, da es sich um kleine Gruppen handelt, die relativ viel Raum zum Leben zur Verfügung haben. Außerdem hält sich der persönliche Besitz der einzelnen San in Grenzen, da sie als Nomaden immer alles, was sie haben, mit sich umhertragen können müssen. Neid und Habgier sind damit enge Grenzen gesetzt.
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