Was, wenn das eigene Pferd plötzlich blind wird? Sollte man ein blindes Pferd einschläfern – oder gemeinsam kämpfen? Michelle Menger hat sich für letzteres entschieden. Und reitet heute mit ihrem blinden Pony Joschi wieder erfolgreich auf Turnieren. Dass Joschi blind ist, merken viele erst auf den zweiten Blick. pferde.de sprach mit Michelle über grenzenloses Vertrauen und Handicaps, die es vor allem im Kopf gibt…

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Liebe auf den ersten Blick? "Nein, das war es definitiv nicht", sagt Michelle Menger und lacht. Im Gegenteil: Als sie Joschi vor 17 Jahren kennenlernte, war sie sicher: Den will sie – nicht! "Ich war damals elf Jahre alt und ritt mit meiner Freundin in einem kleinen Schulbetrieb. Wir wollten beide mehr und suchten eine Reitbeteiligung. Da wurde uns ein anderer Stall empfohlen, der gerade zwei neue Schulpferde bekommen hatte", erinnert sie sich. Eins davon war Joschi, ein Scheckpony, 1,33 Meter Stockmaß – und mit seinen vier Jahren ziemlich wild.

Kein Wunder also, dass er nicht ihre erste Wahl war. "Wir wollten beide das andere Pony. Aber meine Freundin war kurz vorher erst vom Pferd gefallen und hatte sich dabei den Arm gebrochen. Also bekam sie das andere Pony – und ich Joschi." Damals ahnte sie nicht, dass diese Entscheidung eine der besten ihres Lebens war…

Joschi war zuerst vor allem eins – wild

Die erste Zeit mit Joschi war vor allem eins – wild. "Er hatte einfach zu viel Temperament und bockte gerne", so Menger. Die Folge: Die anderen Reitschüler mochten ihn nicht besonders. "Deshalb sollte er 2011 verkauft werden." Für Menger eine Katastrophe. Also bettelte sie zu Hause so lange, bis sie Joschi zum 16. Geburtstag geschenkt bekam. "Kurz darauf sind wir mit ihm umgezogen – und haben danach einfach jeden Moment genossen."

Mit Joschi erlebte sie vieles zum ersten Mal. "Und er war immer toll, hat mich auch durchs Reitabzeichen getragen." Ihre Leidenschaft damals: Turniere, vor allem Springen. Doch das Glück trübte sich schon zwei Jahre später. Und zwar wortwörtlich: Joschis linkes Auge hatte oft einen Milchschleier und tränte. "Das Auge war dick und gerötet, wie bei einer Bindehautentzündung." Immer wieder musste der Augenarzt kommen, doch die Schübe blieben. "Ich habe dann einen zweiten Arzt geholt. Der sagte, dass Joschi in die Klinik muss, damit das Auge mal komplett untersucht wird."

Periodische Augenentzündung: Pferd Joschi erblindet

In der Klinik dann der Schock: Auf dem linken Auge hatte Joschi eine periodische Augenentzündung. Eine periodische Augenentzündung beim Pferd ist erstmal nicht ungewöhnlich: Es ist die häufigste Augenerkrankung bei den Tieren. Trotzdem ist noch immer unklar, was die Ursachen für die auch als Mondblindheit bekannte Entzündung ist.

Bei Joschi kam hinzu: "Bei der Untersuchung stellten die Ärzte fest, dass er auf dem rechten Auge, das scheinbar keine Probleme machte, bereits komplett blind war." Menger überlegt kurz. "Das hat vorher niemand gemerkt, auch ich hätte es nie geahnt. Eigentlich weiß niemand, seit wann er auf dem Auge blind ist."

Und auch fürs linke Auge gab es keine Hoffnung. "Die Ärzte sagten, dass sich die Netzhaut bereits ablöst und sie da nichts mehr machen können. Sie boten mir an, dass sie ihn auch direkt einschläfern könnten. Das hat mich total geschockt." Sie nahm Joschi wieder mit nach Hause. "Ich wollte ihm einfach eine Chance geben. Und sehen, ob er leben will."

Soll sie ihr blindes Pferd einschläfern lassen?

Ende 2014 kam dann der Moment, als Joschi vollständig blind wurde. "Das war schlimm. Plötzlich traute sich Joschi nicht mehr aus seiner Box. In dem Stall damals wurden morgens die Boxen aufgemacht und die Pferde gingen dann von allein auf die Weide. Aber Joschi blieb in seiner Box." Nur wenn sie kam und ihn rausführte, folgte er ihr. "Dann blieb er auch mit einem Kumpel auf dem Paddock. Aber ohne mich machte er keinen Schritt."

Dazu kam die Reaktion der anderen Einsteller. "In dieser Zeit hörte ich immer wieder: ‚Erlös ihn‘. Aber ich hatte das Gefühl, dass er trotz seiner Blindheit noch voller Lebensfreude war." Und tatsächlich: Nach zwei Wochen kam die Wende und Joschi wurde wieder mutiger. "Er lief zwar ständig irgendwo dagegen. Aber das hat ihn nicht gestört. Er hat sich dann einfach weggedreht und ist in die andere Richtung weitergegangen."

Blindes Pferd Joschi reitet auf Turnieren.
Blindes Pferd Joschi reitet auf Turnieren. © Foto: Sophie Momberger/privat

Viele wollen kein blindes Pferd im Stall

Trotzdem war klar: Joschi braucht einen neuen Stall, in dem mehr auf seine Bedürfnisse eingegangen wird. "Das war eine stressige Zeit. Überhaupt einen Stall zu finden, der ihn nahm – das war nicht leicht. Denn viele wollten kein blindes Pferd im Stall. Wir sind damals vier Mal umgezogen, weil es nicht passte." Sie suchte Hilfe, aber wirklich helfen konnte niemand. "Denn ich wollte Joschi nicht abgeben. Ich wollte nur einen tollen Platz für ihn…"

Dann lernte Michelle Menger eine Frau in Neumünster kennen, die Joschi nicht nur aufnehmen wollte, sondern auch ganz auf seine Bedürfnisse einging. "Das war für ihn perfekt", so Menger. Gleichzeitig stand sie vor dem nächsten Problem: "Ich hatte damals gerade meinen Führerschein gemacht, aber noch kein eigenes Auto. Also kam ich zuerst nur noch einmal pro Woche zu ihm."

Trotz Blindheit – Pony Joschi will mehr

Bei jedem Besuch spürte sie, dass Joschi sein Leben genießt. "Damals dachte ich, dass er eben sehr früh in die Pferde-Rente kommt." Denn, das gibt sie zu: Das Handicap hatte nicht er – sondern sie. In ihrem Kopf waren zu viele Fragen, was er wohl noch kann. Und so versuchte sie zuerst nicht viel. Doch Joschi hatte andere Pläne. "Er fing an mir zu zeigen, dass er mehr will", sagt Menger und lacht. "Ich hatte ihm Kunststücke beigebracht und plötzlich zeigte er sie mir. Als wollte er beweisen, dass er noch ganz viel kann." Und so begann sie mit Bodenarbeit, ging mit ihm spazieren.

Und nach einem Jahr traute sie sich das erste Mal wieder in den Sattel. "Ich dachte, ich versuch’s einfach mal. Und es war sofort wieder das Selbstverständlichste…" Nur eins hat sich geändert: "Ich muss heute gezielter lenken", so Menger. Mittlerweile ist fast alles möglich: "Wir machen Dressur, Geschicklichkeits-Parcours und gehen ins Gelände. Nur aufs Springen verzichte ich."

Dafür geht Michelle mit ihrem blinden Pferd wieder wie früher auf Turniere. "Zuerst war bei dem Stall meiner Reitlehrerin ein Hausturnier. Das wollte ich einfach mal ausprobieren. Und das hat so gut geklappt, dass ich gedacht habe: Jetzt versuchen wir es auf normalen Turnieren."

Fast immer gibt es eine Platzierung

Die beiden starten dann immer in der E- und A-Dressur "und bekommen fast immer eine Platzierung". Vor wenigen Monaten war sie dann mit Joschi beim großen Landesbreitensportturnier in Bad Segeberg. "Ich war früher schon als Gast dort und fand die Stimmung immer besonders toll. Als ich dann in der Ausschreibung eine Working-Equitation-Prüfung mit Dressur und einem Geschicklichkeitsparcours gesehen habe, dachte ich: Das klingt lustig. Das machen wir."

Denn geführte und gerittene Gelassenheitsprüfungen hatte sie mit Joschi schon gemacht. Und dann konnte sie eine Woche vor dem Turnier noch zu einem speziellen Lehrgang. "Der Platz wurde kurzfristig frei", so Menger. "Und das war gut so. Die anderen, die dort waren, trainierten seit einem Jahr. Und ich hatte ja überhaupt keine Ahnung von der Working Equitation und habe dort erst einmal die ganzen Grundregeln gelernt."

"Ich war sicher, wir kommen durch"

Doch am Ende war sie sicher: Da kommen Joschi und sie durch. Und nicht nur das: "Ich dachte, dass wir im Mittelfeld sind. Aber wir haben die Prüfung gewonnen." Und dabei hatte die Richterin bei der Dressur gar nicht gemerkt, dass ihr Pferd blind ist. "Erst beim Trail kam es raus."

Der Grund: Im Trail gab es eine Brücke – und solche Hindernisse kann Joschi mit einem Stimmkommando überwinden. "Das habe ich ihm beigebracht, damit wir im Gelände keine Probleme bekommen, wenn mal etwas im Weg liegt." Doch in der Prüfung sind Stimmkommandos nicht erlaubt. Menger lacht. "Ich habe es ihm dann ganz leise gegeben…"

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"Mein Pferd und ich vertrauen einander blind!"

Nach dem Erfolg gibt es neue Pläne: "Im Februar haben wir in den Holstenhallen in Neumünster einen Auftritt", so Menger. Denn Joschi ist in Norderstedt mittlerweile eine kleine Berühmtheit auf vier Hufen. "Er zeigt nicht nur mir, sondern allen, was er noch alles kann", sagt Menger stolz. Und gibt zu: "Die Krankheit hat uns noch enger zusammengeschweißt. Wir vertrauen einander blind. Und wissen. Zusammen können wir alles schaffen!"  © Pferde.de