- Was machte eine Karnevalssitzung 2020 zum Superspreading-Event? Virologe Hendrik Streeck hat nun seine vieldiskutierte Studie dazu veröffentlicht.
- Die Aufmerksamkeit ist groß - doch erfahren wir wirklich viel Neues? Eine Einordnung.
Der erste große Corona-Ausbruch in Deutschland ereignete sich Anfang 2020 im Kreis Heinsberg. Eine Karnevalssitzung am 15. Februar erwies sich dabei als Superspreading-Event. Der Virologe
Hätte die Studie nicht so große mediale Aufmerksamkeit bekommen, wäre sie kaum berichtenswert. Denn Überraschungen sucht man darin vergeblich. Das Forscherteam um den Virologen Hendrik Streeck von der Universität Bonn bestätigen, dass sich Menschen in schlecht belüfteten Räumen leichter mit dem SARS-Coronavirus-2 anstecken. So weit, so bekannt.
Die Fakten zu dem Event zur Erinnerung:
- Es waren knapp 500 Jecken, die bei der Sitzung in einem Gemeindezentrum in Gangelt Karneval feierten.
- Fast 200 der Feiernden steckte sich allein dort mit Corona an – das erste Superspreading-Ereignis in Deutschland.
Ein Team um den Leiter des Instituts für Virologie der Universität Bonn machte sich kurz nach Bekanntwerden des Ausbruchs in den Kreis Heinsberg auf und begann eine Reihe von Untersuchungen, zum Beispiel zu Ansteckungsraten und Übertragungswegen. Eigentlich genau das, was Virenforscher in so einem Fall machen sollten.
Hendrik Streeck musste Kritik einstecken
Allerdings gab es Kritik: Hendrik Streeck und seine Co-Autoren und -Autorinnen fielen im vergangenen Jahr damit auf, dass sie erste Ergebnisse ihrer Untersuchung zum Infektionsgeschehen vorschnell veröffentlichten und stärker verallgemeinerten, als das gerechtfertigt gewesen wäre. Sie erweckten damit den Anschein, dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) Munition für seine Argumentation für schnellere Öffnungen nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 zu liefern.
Zumal etwa die Zahlen zu den Toten in Gangelt in der ersten Heinsberg-Studie einer näheren Überprüfung durch das Medizinjournalismusprojekt MedWatch nicht standhielten. Streeck war in jenem Frühjahr ein häufig gesehener Talkshow-Gast – obwohl sich so manche seiner Einschätzungen zur Coronakrise später als Irrtum herausstellte.
Diese Mängel schränken die Aussagekraft der Studie ein
Doch zurück zum neuen Preprint mit Ergebnissen aus Gangelt. Wie sind sie zu bewerten?
Eine erste Unwägbarkeit der neuen Studie: Die Forscherinnen und Forscher haben die Jecken, die an der Sitzung teilgenommen haben, erst mehr als sieben Wochen nach der Feier befragt. Etwa darüber, wo im Saal sie sich hauptsächlich aufgehalten und was sie getrunken hätten. Zusätzlich haben sie das Blut der Befragten auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 als Zeichen für eine Ansteckung untersucht. Ob die Erinnerung an den feucht-fröhlichen Abend da noch zuverlässig war?
Um die neue Studie bewerten zu können, muss man außerdem wissen, wie die Forscher das Risiko für eine Ansteckung bei der Karnevalssitzung bestimmt haben. Sie sahen sich lediglich an, ob sich Menschen mit bestimmten Gemeinsamkeiten häufiger ansteckten als andere. Das Ergebnis sind Korrelationen, Hinweise auf statistische Auffälligkeiten - aber keine Beweise für einen Zusammenhang. Das ist bei wissenschaftlichen Untersuchungen nicht ungewöhnlich, schränkt aber die Aussagekraft der Studie ein.
Warum steckten sich bei dem Event mehr Nichtraucher an?
Ein Beispiel: Raucher steckten sich seltener an als Nichtraucher. Das kann viele Ursachen haben. Als einen Grund vermutet das Forscherteam, dass Raucher häufiger die Halle verlassen haben, um sich eine Zigarette anzustecken. Sie hatten also schlicht weniger Gelegenheit, sich anzustecken. Auch Menschen, die ohne zu rauchen während der Pause vor die Tür gegangen sind, hatten ein niedrigeres Risiko, wie die Bonner Studie zeigte.
Als weitere Möglichkeit verweisen die Wissenschaftler auf andere Studien, die nahelegen, dass einer der giftigen Bestandteile von Tabakqualm eine Corona-Infektion erschwert. Hendrik Streeck und seine Kollegen und Kolleginnen raten zwar ausdrücklich davon ab, Rauchen für einen Schutz vor einer Corona-Infektion zu halten.
Gleichzeitig verweisen sie zu den möglichen Hintergründen für diesen Effekt auf eine Studie, deren Hauptautor einer Untersuchung aus dem Februar 2021 zufolge von der Tabakindustrie Geld für seine Forschung erhalten hat. In der kritischen Analyse im Online-Magazin Primary Care Respiratory Medicine heißt es weiter, dass viele solcher Studien fehlerhaft seien und darum falsche Schlüsse zögen.
Studie als weiteres Puzzlesteinchen für die Corona-Forschung
Letzten Endes muss man beim Blick auf die neuen Ergebnisse aus Gangelt auch bedenken: Einige der Resultate dürften inzwischen überholt sein. In Gangelt grassierte der Wildtyp des neuen Coronavirus. Inzwischen dominiert in Deutschland die Delta-Variante, die etwas andere Symptome auslöst, vor allem aber viel ansteckender ist.
Fazit also: Die Bonner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben eines der ersten Ausbruchsgeschehen in Deutschland weiter untersucht – und der Corona-Forschung mit ihren Ergebnissen ein Puzzlesteinchen hinzugefügt. Nicht mehr und nicht weniger.
© RiffReporter
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