- Die Zahlen sind hoch, die Sehnsucht nach einem Ende groß: Wie lange müssen wir noch mit Corona leben?
- Acht COVID-19-Expertinnen und -Experten beurteilen die aktuelle Situation im Herbst.
- In welcher Phase befinden wir uns, wie wird eine Endemie aussehen, was müssen wir jetzt tun?
Die Situation ist verwirrend. Auf der einen Seite verkünden Menschen mit hoher medialer Reichweite – wie etwa US-Präsident Joe Biden Ende September – die Pandemie sei vorbei. WHO-Chef Tedros Ghebreyesus sagt, die Pandemie sei noch nicht vorbei, aber das Ende in Sicht. Gleichzeitig schnellen in vielen Ländern gerade die Corona-Ansteckungen in die Höhe. Auch die Hospitalisierungsrate von Menschen mit COVID-19 und die Zahl der Todesfälle steigen an. Weltweit starben Anfang Oktober 2022 rund 9600 Menschen pro Woche im Zusammenhang mit COVID-19.
Wo stehen wir in der Corona-Pandemie? In der Mitte, am Ende oder sind wir vielleicht doch schon durch? Wir haben zwölf Expertinnen und Experten schriftlich zum Thema befragt: Ist die Corona-Pandemie tatsächlich zu Ende? Acht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben geantwortet. Darunter sind einige Fachleute, deren Einschätzungen immer wieder in den Medien auftauchen. Es sind aber auch solche dabei, deren Stimmen man bisher weniger gehört hat.
Immunologin Martina Sester blickt optimistisch in die Zukunft
"Aus meiner Sicht ist die Pandemie natürlich noch nicht zu Ende, wie man gerade an den massiv steigenden Infektionszahlen sieht, aber dennoch blicke ich sehr optimistisch in die Zukunft", schreibt Martina Sester von der Universität des Saarlandes in Homburg. Die Professorin für Transplantations- und Infektionsimmunologie hat in Studien die Wirksamkeit von Impfstoffen gegen COVID-19 untersucht. "Wir haben eine breite Immunität auf Basis guter Impfstoffe und Infektionen, die zwar weitere Infektionen nicht verhindert, aber dennoch vor schweren Verläufen schützt." Das sei das besondere Verdienst der zellulären Immunität, die wenig durch Virusvarianten beeinträchtigt sei.
Unser besonderes Augenmerk sollten wir auf die vulnerablen Gruppen richten, deren Situation sich aber ebenfalls deutlich verbessert habe, so Martina Sester. Impfungen milderten auch bei ihnen die Schwere der Erkrankung. Außerdem verfügten wir inzwischen über therapeutische und vorbeugende Maßnahmen, mit denen sich die Verläufe abmildern ließen. Gerade die vulnerablen Menschen profitierten beispielsweise besonders von Booster-Impfungen mit den neuen Varianten-Impfstoffen.
"Sars-CoV-2 dominiert die öffentliche Diskussion, aber wir sollten auch andere respiratorische Erreger im Blick behalten und Vorsorgemaßnahmen treffen", mahnt Martina Sester und nennt als Beispiel die jährliche Influenza-Impfung.
Infektiologe Clemens Wendtner sieht Gefahr in vorschneller Entwarnung
Clemens Wendtner, Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Immunologie, Palliativmedizin, Infektiologie und Tropenmedizin an der LMU München ist nicht so optimistisch wie der US-Präsident: "Die Pandemie ist aus meiner Sicht noch voll im Gange und leider noch weit weg von der Endemie." Nicht nur in Deutschland erlebe man gerade ein dynamisches Infektionsgeschehen mit einer starken Viruszirkulation in einer nur teilimmunisierten Bevölkerung. Erschwerend kämen Virusvarianten mit Immunfluchteigenschaften hinzu. Die Hospitalisierungsinzidenzen lägen in einigen Regionen höher als in den schlimmsten Zeiten 2020/2021.
"Es ist daher unser aller Aufgabe, hier nicht vorschnell Entwarnung zu geben und die Infektionen "durchlaufen" zu lassen, da dies nicht nur viele Menschenleben direkt kosten, sondern darüber hinaus die Gesundheitsversorgung insgesamt durch Personalüberlastung und -ausfälle gefährden würde." In den nächsten Monaten bräuchten wir noch eine gehörige Portion Disziplin, die Booster-Impfungen, Maskenpflicht und Kontaktreduktion umfassen könnte. "Augen zu und durch, wird hier leider nicht funktionieren."
Virologe Andreas Dotzauer: Die pandemische Phase ist nicht zu Ende
"Eine endemische Phase ist durch sowohl zeitlich als auch lokal eng begrenzte Ausbrüche gekennzeichnet und auch die Anzahl an Neuinfektionen ist relativ gering – so wie wir das von Kinderkrankheiten her kennen", antwortet Andreas Dotzauer, Virologe von der Universität Bremen. Die weltweite Ausbruchssituation sähe derzeit aber immer noch anders aus: Häufige, starke Infektionswellen, die lokal und auch von der Zeit her eben nicht enger begrenzt seien. "Die pandemische Phase ist nicht zu Ende."
Virologe Jonas Schmidt-Chanasit weist auf die unklare Definition des Begriffs "Pandemie" hin
Auf die Frage, ob die Pandemie zu Ende sei, könne man keine einfache Antwort geben, sagt Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Darum werde diese Frage in den Ländern ja auch unterschiedlich beantwortet. "Es gibt keine genau definierten Kennzahlen, mit deren Hilfe man sagen könnte, das ist jetzt noch eine Pandemie und das ist keine mehr", so Schmidt-Chanasit. Ob wir uns noch in einer Pandemie befänden, müsse letztlich die Gesellschaft beziehungsweise die Politik diskutieren und entscheiden. WissenschaftlerInnen könnten mit entsprechenden Daten nur einen Teilaspekt für diese Entscheidung liefern.
Die gesellschaftliche Diskussion zum Thema sei enorm wichtig. Allerdings müssten alle Blickwinkel auf das Thema berücksichtigt werden. "Aktuell ist es häufig so, dass manche Lage-Beurteilungen wenig Gehör finden", kritisiert der Hamburger Virologe. Statt mit den plakativen Begriffen "Pandemie" und "Endemie" zu hantieren, hält er es für wichtiger, den Menschen die Situation genau zu beschreiben, in der wir ungerade befinden: Ja, die Infektionszahlen werden wieder steigen; ja, es wird leider auch weiter Tote geben. "Aber im Vergleich zu 2020 gibt es einen entscheidenden Unterschied: Fast alle von uns haben als Folge von Impfungen oder Infektionen inzwischen Antikörper gegen das Virus, stehen ihm nicht mehr "naiv", also nicht-immunisiert, gegenüber." Teilfluchtvarianten des Coronavirus gebe es, auch das sei keine Frage. Dass jedoch ein völlig neues Sars-CoV-2 auftauche, das der Immunantwort komplett entgehe, hält Schmidt-Chanasit für extrem unwahrscheinlich.
Immunologe Andreas Bergthaler: Ende der Pandemie ist Definitionssache
"Das Ende der Pandemie ist wohl letztlich eine Definitionssache", schreibt Andreas Bergthaler, Immunologe von der Medizinischen Universität Wien. "Meinen wir damit, dass die WHO COVID-19 nicht mehr als Pandemie einstuft? Beziehen wir uns darauf, dass unser Gesundheitssystem nicht mehr regelmäßig Gefahr läuft, aufgrund dieses Infektionserregers überlastet zu sein? Oder geht es darum, inwiefern wir diese zweieinhalb-jährige Krise neben all den anderen Krisen als solche überhaupt noch wahrnehmen wollen?" Der viel bessere Immunisierungsgrad im Vergleich zu 2020 stimme ihn zuversichtlich. Eine durchschnittlich gesunde Person laufe daher immer weniger Gefahr schwer zu erkranken. "Gleichzeitig gibt es die Unsicherheit von möglichen neuen Varianten sowie wesentliche ungelöste Fragen, besonders zum Schutz der Vulnerablen und zu Long COVID." Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund eines zunehmend fehlenden Willens in Politik und weiten Teilen der Bevölkerung, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Zum Virus selbst, möchte Bergthaler keine Prognose abgeben, "da uns dieses Virus schon zu oft überrascht hat."
Infektiologin Jana Schroeder: Das Ende der Pandemie werden wir erst im Nachhinein bestimmen können
Die Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie vom Mathias-Spital in Rheine, Jana Schroeder, stellt ihrer Antwort die Definition des Begriffs "Pandemie" des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2009 am Beispiel des Grippe-Virus voran:
"Eine Pandemie bezeichnet eine weltweite Epidemie. Eine Influenzapandemie wird durch ein neuartiges Influenzavirus verursacht, das in der Lage ist, schwere Erkrankungen hervorzurufen und sich gut von Mensch zu Mensch zu verbreiten. Da dieser neue Erreger zuvor nicht oder sehr lange nicht in der menschlichen Bevölkerung vorgekommen ist, ist das Immunsystem nicht vorbereitet und daher auch nicht geschützt. Die Influenza-Pandemien des vergangenen Jahrhunderts gingen mit Erkrankungs- und Sterberaten einher, die übliche, auch schwere, Influenzawellen übertrafen. Die Weltgesundheitsorganisation weist darauf hin, dass auch ein pandemisches Virus, das bei gesunden Menschen überwiegend vergleichsweise milde Symptome verursacht, durch die hohe Zahl von Erkrankten in einem begrenzten Zeitraum die Gesundheitssysteme eines Staates überlasten könne, insbesondere in Entwicklungsländern."
"Nach dieser Definition des RKI sind wir noch in einer Pandemie, deren Ende nicht von einer politischen Aussage bestimmt wird", schreibt Jana Schroeder. Letztlich handele es sich dabei primär um eine Definitionsfrage, die keine Aussagen zur Krankheitsschwere oder der lokalen Belastung des Gesundheitswesens mache und daher nicht überbewertet werden sollte. "Vermutlich werden wir erst im Nachhinein festlegen können, zu welchem Zeitpunkt genau das Ende der Pandemie gewesen sein wird, denn COVID wird bleiben." Durch Impfungen, verbesserte Therapiemöglichkeiten und eine weniger pathogene Variante seien wir zum jetzigen Zeitpunkt, was schwere Erkrankungen und Tod anbetrifft, ungefähr bei der Gefährdung durch die Influenza-Grippe angekommen. "Doch Sars-CoV-2 verbreitet sich nicht nur ein paar Monate im Jahr (wie die Influenza-Viren), sondern in Wellen im ganzen Jahr, so dass sich viel mehr Menschen (erneut) infizieren." Das führe insgesamt zu höheren absoluten Infektionszahlen, Arbeitsausfällen und chronischen Krankheitsfolgen.
Virologin Ulrike Protzer: Die Pandemie hat ihren großen Schrecken verloren
Die Pandemie im engeren Sinn sei nicht vorbei, weil es ja weiterhin eine starke, weltweite Ausbreitung des Sars-CoV-2 mit hohen Erkrankungszahlen und zum Teil auch schweren Verläufen gebe, schreibt Ulrike Protzer, Direktorin am Institut für Virologie der TU München. "Was man aber sagen kann, ist, dass sie ihren großen Schrecken verloren hat, weil wir einen breiten Immunschutz aufgebaut haben, durch die Impfungen, aber auch durch durchgemachte Infektionen."
Mikrobiologe Werner Solbach sieht die Gesellschaft in der Verantwortung
Die Pandemie sei keinesfalls zu Ende, wenn wir uns auf die bei Wikipedia zu lesende Definition von "Pandemie" einigten, schreibt Werner Solbach, emeritierter Professor der Universität zu Lübeck mit den Fachgebieten Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Infektionsmedizin.
Pandemie bezeichnet eine "neu, aber zeitlich begrenzt in Erscheinung tretende, weltweite starke Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen und i. d. R. auch mit schweren Krankheitsverläufen." Im Unterschied zur Epidemie ist eine Pandemie örtlich nicht beschränkt. (Wikipedia, Zugriff: 13. Okt. 2022)
Es werde noch eine ganze Zeit lang dauern, bis sich das Virus stabil in der Welt eingenistet habe – vermutlich mit immer neuen Varianten – und dann endemisch mit einer "balancierten Pathogenität" geworden sei", schreibt Solbach. "Das Virus wird die menschliche Population nicht mehr verlassen und dauerhaft Erkrankungen, überwiegend der Atemwege, mit unterschiedlicher Schwere hervorrufen."
Was demnächst wohl vorbei sei – dank Impfung, Masken und Virustatika (z. B. Paxlovid) – sei die gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite. Es werde weiterhin viele Fälle geben, aber ohne eine Überlastung des Gesundheitssystems. "COVID-19 wird eine "normale" Infektion der Atemwege werden, die sich zu anderen winterlichen Infektionen wie zum Beispiel der Influenza gesellt." Staatliche Maßnahmen, die über Appelle und Informationen hinausgingen, seien nicht mehr notwendig.
"Persönlich bin ich der Meinung, dass sich der Staat baldmöglichst aus dem Sars-CoV-2-Management zurückziehen sollte und die Aufgabe in die Verantwortung der Gesellschaft übergeben sollte."
Fazit: Corona ist noch nicht vorbei
Corona ist noch nicht vorbei, da sind sich die Expertinnen und Experten einig. Wir stehen wegen der durch Impfungen und/oder Infektionen erworbenen Immunität jedoch an einem völlig anderen Punkt als noch zu Beginn der Pandemie. Wegen des immer noch sehr dynamischen Infektionsgeschehens sind Schutzmaßnahmen notwendig, vor allem um die gefährdeten Menschen in der Gesellschaft vor einem schweren COVID-19-Verlauf zu schützen. Jede und jeder ist hier gefragt, sich verantwortungsbewusst zu verhalten. Es gilt, eine gesunde Vorsicht walten zu lassen, keine Panik, keinen Fatalismus, Vertrauen auf die eigenen und gesellschaftlichen Abwehrkräfte, eine offene, gesellschaftliche Diskussion, die unterschiedliche Ansichten nicht ausblendet, sondern als Qualitätsmerkmal einer vielfältigen Gesellschaft anerkennt.
Wann die Corona-Pandemie zu Ende ist, ist weniger eindeutig. Das liegt vor allem daran, dass wir, im Gegensatz zu den Grippe-Pandemien, einfach noch keine Erfahrungen mit Corona-Pandemien haben. Das Ende der Pandemie zu erreichen, sei nicht, wie eine Fahrt von einem Bezirk in den nächsten, schreibt die Wissenschaftsjournalistin Helen Branswell. Es gebe keine festgesetzte Abgrenzungslinie zwischen der Pandemie und der Phase danach. Wir wissen einfach noch nicht, wie genau eine COVID-19-Endemie aussehen wird, wie viele Fälle es jährlich, in welchem Zeitraum geben wird, wie viele leichte, wie viele schwere Fälle und wie viele Tote.
© RiffReporter
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