Während des Kalten Krieges bohrten Forscher im Nordwesten Russlands das tiefste Loch der Welt. Das Prestigeprojekt sollte die USA beeindrucken und wissenschaftliche Erkenntnisse liefern. Nach dem Fall der Sowjetunion wurde die Forschungsstation dicht gemacht - bis heute überdauert hat jedoch ein Schauermärchen um das Superloch: Haben die Russen damals die Hölle angebohrt?

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Im Kalten Krieg wetteiferten die USA und Russland um Rekorde. Raumfahrt, Waffenarsenal, Eiskunstlauf – jeder Sieg hatte große politische Symbolkraft. Doch der Wettstreit fand nicht nur im Weltraum oder bei den Olympischen Spielen statt, sondern auch tief unter der Erde.

Am 24. Mai 1970 startete die Sowjetunion auf der Kola-Halbinsel nahe der Grenze zu Finnland und Norwegen ein Bohrprojekt, mit dem das bis dahin tiefste Bohrloch der USA bei Weitem übertrumpft werden sollte. 15 Kilometer senkrecht in die Erde sollte die "Supertiefe Kola-Bohrung SG-3" führen – rund 5,5 Kilometer tiefer als das Bohrloch "Bertha Rogers" in Oklahoma.

Sowjetunion, Bohrung, das tiefste Loch der Welt
Der Bohrturm in Windischeschenbach, dessen Bohrer eine Tiefe von 9.101 Metern erreichte, steht noch immer. © IMAGO/Zoonar/Walter J. Pilsak

Auch wissenschaftliche Erkenntnisse zu Ressourcenvorkommen und dem Aufbau der Erdkruste erhoffte sich die UdSSR davon. Binnen weniger Jahre wurde die Unternehmung zu einem Vorzeigeprojekt der Sowjetunion, das Millionen verschlingen sollte; auch deshalb, weil mehrere Anläufe nötig waren.

Insgesamt 16 Mal wurde der 21 Zentimeter breite Bohrkopf der "Uralmasch-15000" angesetzt, um sich Schicht für Schicht in das Gestein zu drehen. Immer wieder musste die Bohrung abgebrochen, das Loch zementiert und neu angesetzt werden. Im Jahr 1989 war bei 12.262 Metern endgültig Schluss - die Temperaturen in dieser Tiefe waren mit 180 Grad Celsius deutlich höher als erwartet. Das Vorankommen wurde zunehmend schwerer und die wirtschaftliche Situation in der Sowjetunion zudem immer dramatischer.

"Es war [...] eine absolute Meisterleistung, was die Russen damals geschafft haben."

Ulrich Harms, Geowissenschaftler

Das Vorhaben, 15 Kilometer tief in die Erde zu bohren, scheiterte: 1992 wurden der Bohrturm teilweise abgerissen und das Loch mit einem Stahldeckel versiegelt. "Letztendlich war es eine finanzielle Entscheidung der Geldgeber, dass die Forschung auf der Kola-Halbinsel eingestellt wurde", sagt Ulrich Harms, Wissenschaftler am Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. "Es war dennoch eine absolute Meisterleistung, was die Russen damals geschafft haben."

Tiefstes Loch der Welt heute in Bayern

Bis heute gilt das Kola-Bohrloch als tiefstes Loch der Welt, auch wenn das streng genommen nicht mehr ganz richtig ist. "Als ich im Jahr 2000 dort zu Besuch war, war das Kola-Bohrloch nur noch 6.000 Meter tief", so Harms. Durch Wasser und Spannungen in der Erdkruste seien die Rohre deformiert und begännen zu rosten. Wissenschaftlich nutzen lasse sich das Bohrloch längst nicht mehr. "Da müsste man wieder von ganz vorne anfangen." Inzwischen befindet sich das tiefste noch aktive Bohrloch der Welt in Windischeschenbach in der Oberpfalz, rund 130 Kilometer östlich von Nürnberg.

Seit 1995 forschen Wissenschaftler wie Ulrich Harms dort in 9.101 Metern Tiefe, denn auch heute noch seien Tiefbohrungen für die Forschung wichtig. "An der Erdoberfläche werden die Signale von menschgemachtem Schall und Lärm gestört", sagt Harms. In der Tiefe können man viel besser hineinhorchen, was da unten tatsächlich vor sich gehe.

Untersucht werden mit der kontinentalen Tiefbohrung (KTB) in Windischeschenbach der allgemeine Aufbau der Erdkruste oder die Entstehung der Erde. Im Zentrum stünden allerdings vor allem angewandte Forschungsfragen zu Ressourcen und Naturgefahren wie Erdbeben und Vulkanismus, erklärt Harms.

Auch die Bohrarbeiten in der Oberpfalz seien damals von den überraschend hohen Temperaturen von 280 Grad Celsius in der Tiefe erschwert worden. "Da stößt man dann an erhebliche technische Grenzen." Grundsätzlich sei es heute aber möglich, tiefer als neun oder zwölf Kilometer zu bohren. "Würde man einen Tiefenrekord aufstellen wollen, würde man eine kühlere, stabile Stelle suchen", sagt Harms. Die Kola-Halbinsel im Nordwesten Russlands sei vom Standort her tatsächlich ideal.

Auch dort ging es den Russen damals nicht nur um ein Kräftemessen mit den USA. Auf dem Weg ins Erdinnere gelang es den Forschern, anhand von Geräuschen in der Tiefe Erdbeben vorherzusagen. Sechs Kilometer unter der Erdoberfläche stießen sie auf Gold. Die interessanteste Entdeckung ist aus Sicht von Harms aber eine andere: "Es konnte erstmals nachgewiesen werden, dass in großer Tiefe noch Grundwässer zirkulieren."

Bis dahin sei man davon ausgegangen, dass es in der Tiefe nur dichtes Gestein gebe. "Wir haben zumindest in der oberen Erdkruste nicht nur Gestein, sondern auch Wasser und Gase", erklärt Harms. "Das ist ein komplexes System, das da zusammenwirkt, und das wurde bis dahin nicht beachtet."

Schreie aus dem tiefsten Loch der Erde?

Berühmt ist das Kola-Bohrloch heute jedoch weniger für seine bahnbrechenden Erkenntnisse, als vielmehr für einen grausigen Mythos. Irgendwann wurde aus dem Vorzeigeprojekt der UdSSR eine tief religiöse Angelegenheit. Gerüchte machten die Runde, die Forscher seien in 14 Kilometern Tiefe auf einen Hohlraum gestoßen, in dem Temperaturen von 1.100 Grad Celsius herrschten. Ein hitzeresistentes Mikrofon hätte dort unten seltsame Geräusche aufgenommen: Menschliche Schreie wie aus Tausenden gequälten Kehlen. Der Mythos war geboren: Die Russen haben die Hölle angebohrt.

Natürlich gebe es Geräusche in der Tiefe, sagt Harms dazu. "Spannungsrisse kann man akustisch messen und mit einem Tonband aufnehmen, das hört sich an wie ein Knistern." Je nachdem, wie schnell oder langsam man das Tonband abspiele, ließe sich alles heraushören, auch Schreie.

Der Geowissenschaftler glaubt, dass der Mythos möglicherweise in der Oberpfalz seinen Anfang nahm. In Windischeschenbach habe in den ersten Jahren der Tiefenbohrung ein Schülerwettbewerb stattgefunden. Bei der Besichtigung der Anlage hätten die Kinder das Wort "Teufe" gehört - ein alter bergmännischer Ausdruck für Tiefe. "Einige Kinder haben daraufhin Bilder gemalt, mit einem Teufel unter dem Bohrturm", erzählt Harms. Das sei auch in einem Kalender abgedruckt worden und habe Nachahmer gefunden, unter anderem in Russland.

Wie auch immer die Geschichte tatsächlich ihren Anfang nahm – sie war offenbar zu gut, um sie zum Ende des Kalten Krieges mit dem Bohrloch zu begraben. Laut einer Recherche des "Spiegel" fand die Mär über die Entdeckung der Hölle sogar ihren Weg zum damals größten religiösen TV-Sender in den USA, dem "Trinity Broadcasting Network", kurz TBN.

Bei einem Besuch in den USA habe der norwegische Lehrer Åge Rendalen 1989 den Beitrag zufällig im Fernsehen gesehen. Amüsiert von der Meldung habe er beschlossen, die Leichtgläubigkeit der Menschen auf die Probe zu stellen. "Es war ein Experiment, um herauszufinden, ob sie alles annehmen würden, solange es zu ihrer Weltsicht passt", sagte er dem "Spiegel".

Legende um die angebohrte Hölle kursiert bis heute

In einem Leserbrief an TBN habe er sich als "Spezialberater des norwegischen Justizministeriums" ausgegeben und das Schauermärchen weiter ausgebaut. So berichtete er von einer Säule aus phosphoreszierendem Gas, die aus dem Bohrloch aufgestiegen sei. In den Wolken sei daraufhin eine fledermausähnliche Gestalt nebst den Worten "Ich habe erobert" erschienen. Als Beleg fügte er einen norwegischen Zeitungsartikel hinzu, den er absichtlich falsch übersetzt hatte.

Nun ging es in dem Artikel nicht mehr um einen Bauinspekteur, der sich über seinen Arbeitgeber beschwerte, sondern um den angeblichen Leiter der Kola-Bohrung, der von den Sowjets mit Drohungen ruhiggestellt werden sollte. Auch dass von Sanitätern nach dem Vorfall Medikamente verteilt wurden, um das Kurzzeitgedächtnis der Bevölkerung auszulöschen, dichtete Rendalen dem Zeitungsartikel an.

Obwohl Rendalen kurz darauf zugab, dass alles erstunken und erlogen war, verbreitete sich die Geschichte wie ein Lauffeuer. Der Sender TBN berichtete nun großflächig über die russische Höllenmär, Fernsehprediger sprangen auf und selbst renommierte Tageszeitungen hätten laut "Spiegel" darüber berichtet. Auch eine Stellungnahme Rendalens und Auftritte in Talkshows konnten die Geschichte nicht mehr einfangen.

Bis heute zirkuliert der Mythos durchs Internet. Gibt man bei Google das Suchwort "Kola-Bohrung" ein, lautet einer der ersten Vorschläge der Autovervollständigung "Schreie". Sucht man nach "Bohrung Windischeschenbach", werden hingegen Schlagworte wie "Tiefe" oder "Durchmesser" vorgeschlagen. Von Schreien wurde aus der Oberpfalz bislang offenbar nichts berichtet. "Ich habe nichts dergleichen gehört", sagt auch Harms. "Und ich halte mein Ohr öfter mal an die KTB."

Über den Gesprächspartner:

  • Dr. Ulrich Harms ist Geowissenschaftler und leitet die Arbeitsgruppe Wissenschaftliches Bohren am Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Er war am Aufbau der kontinentalen Tiefbohrung in Windischeschenbach beteiligt und hat als Wissenschaftler auch schon die Kola-Bohrung in Russland besucht.

Verwendete Quellen:

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