Lerntypen − eine kontroverse Diskussion
"Auf seine eigene Art zu denken ist nicht selbstsüchtig. Wer nicht auf seine eigene Art denkt, denkt überhaupt nicht."
Dieses Zitat von Oscar Wilde lässt sich wunderbar auf das Thema "Lerntypen" übertragen: Jeder Mensch ist und denkt anders. Und jeder Mensch lernt auch anders. Wir lernen auf unterschiedliche Arten, unter unterschiedlichen Bedingungen und mit ganz unterschiedlichen Techniken − ob durch klassisches Wiederholen, über Versuch und Irrtum, langsames Herantasten, anhand praktischer Beispiele, durch spielerische Auseinandersetzung oder über eine andere Methode. Die Kategorisierung bzw. Einordnung in bestimmte Lerntypen gilt heutzutage als überholt. Sowohl Eltern als auch Lehrkräfte sollten sich also davor hüten, Kinder in feste Lerntypen einzuteilen oder bestimmte Lernstrategien als die einzig wahren zu betrachten. Doch als Anhaltspunkt oder Basis für bestimmte Formen des Lernens oder als Hilfestellung in Schule, Uni und Beruf mögen Lerntypen-Ansätze ganz interessante Aspekte beinhalten.
Der Begriff Lerntyp wurde Mitte der 1970er Jahre von Frederic Vester in seinem Buch "Denken, Lernen, Vergessen" eingeführt. Er vertrat hierbei die Hypothese, dass man Menschen in vier verschiedene Lerntypen einteilen kann: auditiver Lerntyp, visueller Lerntyp, haptisch-motorischer Lerntyp und kommunikativ-intellektueller Lerntyp. Er nahm an, dass diese Lerntypen für die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Information bestimmte (Sinnes)Kanäle vorziehen.
Allerdings betont Vester auch, dass diese Lerntypen in den meisten Fällen als Mischformen auftreten (z. B. audio-visueller Typ), wobei eine stärkere Veranlagung zu einem der Wahrnehmungskanäle vorhanden ist. Diese Einteilung bzw. Klassifikation ist in der modernen Lernforschung äußerst umstritten, wurde aber zu jener Zeit von Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern im deutschsprachigen Raum mit großer Begeisterung aufgenommen. Vor allem an Schulen wurde diese Einteilung in Lerntypen als Hilfe für die praktische Umsetzung im Unterricht betrachtet. Demzufolge dienten sie lange Zeit als Basis für Handlungsempfehlungen, um Kinder und Jugendliche beim Lernen zu unterstützen.
Es gibt vier Lerntypen basierend auf Frederic Vester − und damit verknüpfte Lernstrategien:
Auf Vesters Typisierung basierend entstand noch ein weiterer Lerntyp:
Wichtig zu wissen: Eine Einteilung in Lerntypen wird kontrovers diskutiert!
Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachbereichen argumentieren unter anderem, dass es nicht genügend belastbare wissenschaftliche Beweise für die Existenz von Lerntypen gibt. Und man könne auch nicht belegen, inwieweit Lerntypen für den Lernprozess überhaupt von Bedeutung sind. Individuelle Präferenzen für visuelles, auditives oder kinästhetisches Lernen bedeuteten nicht automatisch, dass diese auch zu besseren Lernerfolgen führen. Zudem basieren die Lerntypen auf Wahrnehmungskanälen (z. B. hören, sehen, schmecken), wohingegen ein paar andere auf der kognitiven Ebene (z. B. nachdenken, reflektieren) angesiedelt sind. Hier wird also Angeborenes bzw. Wahrnehmung mit geistiger Aktivität bzw. Denkprozessen vermischt.
Der US-amerikanische Erziehungswissenschaftler Howard Gardner entwickelte die mittlerweile recht bekannte Theorie, dass es verschiedene Arten von Intelligenzen (Gardner's Multiple Intelligences) gibt. Eine Auswahl an Lerntypen, die hierauf basiert bzw. sich daran orientiert:
Die meisten Lehrkräfte und Coaches im deutschsprachigen Raum − verschiedenen Umfragen zufolge über 80 Prozent − sind immer noch der Ansicht, dass die Einteilung in Lerntypen sinnvoll, korrekt und vor allem wissenschaftlich fundiert ist. Wissenschaftler wie Philip M. Newton (Leiter der Abteilung Lernen und Lehren an der Swansea University Medical School, Großbritannien) kamen jedoch nach Analyse unterschiedlicher Studien rund um das Thema zu dem Schluss, dass kein praktischer Effekt von Lerntypen nachweisbar sei.
Zahlreiche Studien haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten gezeigt, dass die Einteilung in Lerntypen nicht möglich ist. Es ließen sich bisher keine bestimmten Hirnareale lokalisieren, die bei den verschiedenen Lerntypen (mehr oder weniger stark) aktiviert werden. Es gibt zwar Bereiche im Großhirn, die bei der Verarbeitung unterschiedlicher Informationen stärker oder weniger stark beansprucht werden, doch ein Zusammenhang zu Lerntypen lässt sich nicht herstellen.
Auch eine Professorin für Lehr-Lernforschung, Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik am Karlsruher Institut für Technologie und Leiterin des dortigen Lernlabors erklärt in einem Interview auf SPIEGEL online ("Sieben Lernmythen im Check"; 27.03.2021): "Obwohl sich diese Annahme hartnäckig hält: Bisher hat keine Studie beweisen können, dass es solche unterschiedlichen Lerntypen gibt."
Zudem bemerkt die Expertin, dass allein die Grundannahme absurd sei, denn Menschen nehmen ihre Umgebung nicht nur mit einem Sinnesorgan wahr, sie filtern nicht so extrem, wie es bei einer Lern-Typisierung unterstellt wird. Zudem kommt es auch auf den Lerninhalt an, also was genau gelernt werden soll.
Trotzdem ist das Festhalten an Lerntypen an Schulen und Universitäten sowie im beruflichen Umfeld noch weit verbreitet. Das löst zum Teil auch Besorgnis bei vielen Pädagoginnen und Pädagogen aus, da die Nutzung bzw. Übertragung von Lerntypen auf Lernende letzten Endes sogar schädlich sein kann. Durch die Zuordnung zu einem Lerntypus steckt man Menschen in vorgefertigte Schubladen. So erreicht man unter Umständen genau das Gegenteil vom dem, was man wollte: man demotiviert, verunsichert und vereitelt Chancen.
Ganzheitlich Lernen nach Pestalozzi
Der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi verfolgte schon Anfang des 19. Jahrhunderts einen ganzheitlichen Ansatz mit seinem "Kopf-Herz-Hand"-Prinzip: Hier geht es um die Vernetzung zwischen Denken und Vernunft (Kopf), Empathie und Emotionen (Herz) und den konkreten Handlungen eines Menschen (Hand). Diese drei Ebenen befinden sich im steten Austausch miteinander, doch werden einzelne unterdrückt oder vernachlässigt, entstehen daraus bestimmte Stärken und Schwächen. Bezieht man diese Erkenntnis auf das Lernen, scheint es einleuchtend, dass es am effektivsten ist, möglichst ausgewogen zu lernen − durch denken, fühlen und handeln.
Jeder Mensch hat seine eigenen Vorlieben: Wenn man sich ein wenig damit beschäftigt, können Kategorien wie Lerntypen zunächst einmal auch recht nützlich sein, um sich selbst im Lernprozess besser kennenzulernen. Welcher Lerntypus sagt einem am meisten zu? Wo erkenne ich mich wieder? Warum ist das so? Auch für Lehrkräfte und Verantwortliche im Bildungsbereich können diese Ansätze nützlich sein, solange sie weiter hinterfragt und immer wieder neu bewertet werden. Lernstrategien für Schule, Uni und Beruf sollten also unbedingt ausgewogen sein und auf die individuellen Bedürfnisse und jeweiligen Lernzeile ausgerichtet werden − unter Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Verhaltens- und Hirnforschung, der Neurobiologie, der praktischen Seite der Pädagogischen Psychologie sowie der Didaktik.
Was hilft denn nun beim Wissenserwerb? Nach heutigen Erkenntnissen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen gibt es keinen allgemeingültigen Weg, keine einfache Formel, wie man effizientes Lernen und Denken bestmöglich fördern kann. Und selbst wenn es einfache Lösungen und Ansätze gäbe: Für die Umsetzung differenzierter, stark individualisierter Lernmodelle fehlt in der Schulpraxis leider meistens die Zeit, das Personal, die Räume und/oder die Ausstattung. Alle Überlegungen aus Untersuchungen und Studien liefern nur Anhaltspunkte; die Wirksamkeit von Lernmodellen muss immer Gesamtkontext untersucht werden.
Was hilft nun unter Berücksichtigung von aktuellen Forschungsergebnissen, Modellen und Theorien beim Lernen? Zunächst sollte grundsätzlich in der Gestaltung von Unterricht berücksichtigt und akzeptiert werden, dass Lernen ein aktiver, konstruktiver und zu großen Teilen selbstgesteuerter Prozess ist − auch abhängig von der jeweiligen Lernsituation, dem Lernumfeld, der Motivation und von sozialen Faktoren. Wie kann Unterricht aufgebaut werden, damit Kinder und Jugendliche die Lerninhalte bestmöglich aufnehmen, verarbeiten und speichern? In einem idealen Lernumfeld könnte das wie folgt aussehen: